Europa kann Flachs. Also Frankreich, Belgien, Polen und die Niederlande können es vor allem. In diesen Ländern wird Langfaserflachs angebaut, den wir zur Herstellung des umweltfreundlichen Textils Leinen benötigen.
Gibt es tatsächlich Zeichen einer klimaorientierten Veränderung in der Textilbranche in Form einer Fokussierung auf die Verwendung umweltschonender, hiesiger, nachwachsender Rohstoffe als Basis für Bekleidung – wie den Flachs?
Und wenn ja, dadurch vielleicht auch eine gestiegene Nachfrage aus Europa selbst nach ‚Flachs aus Europa‘? Diese und eine Unmenge an weiteren, unbeantworteten Fragen im Kopf unter der Ponymähne waren der Grund dafür, mich eingehender über generelle Anbauflächen für Flachs zu informieren.
Wieviel Flachs wird eigentlich für Textilien wo produziert? Welche Statistiken liefern hier verwertbare Aussagen? Kein leichtes Unterfangen wie sich herausstellen sollte.
Flachsernte im Norden Frankreichs | Alamy Stock Foto
Gelandet bin ich letztendlich, nachdem ich in der Datenbank der Europäischen Kommission (EUROSTAT) leider nicht fündig wurde und der Flachs in deutschen Statistiken quasi nicht vorhanden ist, bei der FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations). Deren Datenbank FAOSTAT ist für jede/n frei zugänglich.
Ermittelte Zahlen für Europa (Total), d.h. darin sind auch Länder erfasst, die nicht in der EU sind
No Data Found
Quelle: Food and Agriculture Organization of the United Nations | sortiert nach: Compare Data | Production | Crops and livestock products | Europe (Total) bzw. World (Total) | Area Harvested | Flax, raw or retted | Linseed | darin enthaltene Schätzwerte: Leinsamen 2005 (Welt Total) + Flachs, roh oder geröstet 2005 (Welt Total) | Stand 02/2024
Hinweis zu Suchoptionen und den oben abgebildeten Zahlen:
I. Die FAO beschreibt die im Zusammenhang mit Flachs vorhandenen Artikel wie folgt:
Flax, raw or retted/ Flachs, roh oder geröstet: Flachsstroh, spp. Linum usitatissimum. Flachs wird sowohl als Saatgut als auch als Faser angebaut. Die Fasern werden aus dem Stängel der Pflanze gewonnen. Die Daten werden in Form von Stroh angegeben. (Inoffizielle Definition)
Flax, proceed but not spun/ Flachs, verarbeitet, aber nicht versponnen: Gebrochen, geschrotet, gehäckselt usw., aber nicht versponnen. Traditionell hat die FAO diese Ware verwendet, um die Produktion in ihrem rohen Zustand zu identifizieren; in Wirklichkeit ist das primäre landwirtschaftliche Produkt die Ware 01929.01 (Flachs, roh oder geröstet), die entweder für die Produktion von Fasern oder für andere Zwecke verwendet werden kann (Inoffizielle Definition)
Flax, tow and waste/ Flachs, Werg und Abfall: Einschließlich Garnabfälle und Reißspinnstoff (Inoffizielle Definition)
II. Korrektur von Gesamtsummen:
Nachdem ich die Werte aus den Listen übertragen hatte, sind mir folgende Unstimmigkeiten aufgefallen:
a) 2022 – Flachs, roh oder geröstet (Europa Total) = 234.962,19 ha, Flachs roh geröstet (Welt Total) = 256.540,51 ha – die Differenz in Höhe von 21.578,32 ha wollte ich Ländern zuordnen und wurde in Ägypten (8.616,33 ha), Chile (2.861 ha), Argentinien (2.838,27 ha) und China (7.253,72 ha) fündig. Zusammen ergibt das 21.569,32 ha (evtl. eine Rundungsdifferenz von 9 ha) und entspricht damit dem Anteil der Produzenten außerhalb von Europa. Dachte ich, doch dann entdeckte ich, dass die Russische Föderation (Werte ab 1992 vorhanden) mit einem Anteil von 32.496,88 ha im Jahr 2022 nicht im Welt Total enthalten ist, ebenso 1995 (163.300 ha) und 2005 (89.210 ha). In der Grafik habe ich diese Zahlen hinzugefügt.
b) Für Leinsamen gilt das Gleiche, auch hier waren die Werte 1995 (143.570 ha), 2005 (61.410 ha) und 2022 (stattliche 2.040.476 ha) nicht dem Welt Total zuordnet. Diese Hektarflächen sind in obiger Grafik nun abgebildet.
Selbst wenn diese (oben dargestellte) Übersicht – wie alle Statistiken – fehlerbehaftet ist, so läßt sich doch eine Tendenz erkennen.
Wurden in Europa 2005 noch auf 295.587 ha Leinsamen angebaut, so sind es 2022 mit 2.171.379 ha bereits das 7-fache. Weltweit hat sich der Leinsamenanbau im gleichen Zeitraum 2,3 fach auf eine Fläche von nun 6.573.663 ha vergrößert. Ein Drittel der gesamten Anbaufläche für Leinsamen auf der Welt liegt demnach in Europa.
Davon ausgehend, dass in der Position ‚Flachs, roh und geröstet‘ auch der Langfaserflachs enthalten ist, der für Leinen benötigt wird, zeichnet sich laut FAO im Gegensatz zu Leinsamen parallel ein umgekehrtes Szenario ab.
Waren 2005 in Europa noch 318.788 ha damit bepflanzt, sind es 2022 nur noch 234.962 ha – also 1,3 fach weniger, was ergo einem Schwund in Höhe von 26,29% entspricht.
Ein Umdenken in der Textilindustrie – hin zu nachwachsenden Rohstoffen ‚vor der eigenen Haustür‘ – läßt sich anhand dieser Zahlen erst einmal nicht feststellen, eher das Gegenteil scheint der Fall.
Leider ließ sich über reine Hektarflächen für ‚Flachs, roh oder geröstet‘ nicht ermitteln, wieviel dieses angebauten Flachses tatsächlich und ausschließlich nur für Textilherstellung verwendet wird, denn das sogenannte Flachsstroh wird ja auch anderweitig eingesetzt.
In der nachfolgenden Grafik sind nochmals die für ‚Flachs, roh und geröstet‘ genutzten Ackerflächen derjenigen Länder in Europa, die ihn effektiv anpflanzen, mittels der FAO-Daten ins Verhältnis gesetzt. Spitzenreiter ist Frankreich mit 81,2% der gesamten Anbaufläche.
Schlusslicht Rumänien, das 1989 noch 70.100 Hektar bepflanzte, nutzt der Quelle zufolge, heute nur noch 100 Hektar für den Langfaser-Flachsanbau. Im Leinsamen-Bereich sind es hingegen 1.840 ha (2022).
Anteil der Hektarflächen produzierender Länder in Europa 2022 (d.h. auch alle Länder außerhalb der EU sind darin erfasst)
No Data Found
Quelle: Food and Agriculture Organization of the United Nations | sortiert nach: Compare Data | 2022 | Production | Crops and livestock products | European Country | Area Harvested | Flax, raw or retted | Stand 02/2024
Europäische Länder stellen – auch wenn die Hektarzahlen sinken – demnach 81,29% der gesamten Anbaufläche für Flachs in der Welt.
Anteil der Hektarflächen Europas im Vergleich zur Welt
No Data Found
Quelle: Food and Agriculture Organization of the United Nations | sortiert nach: Compare Data | 2022 | Production | Crops and livestock products | Europe Total | Egypt | Russian Federation | China | Chile | Argentina | World Total + Russian Federation | Area Harvested | Flax, raw or retted | Stand 02/2024
Die Gründe für den Rückgang von Flachsanbau für Textilien können vielfältig sein: Veränderung des Konsumverhaltens hin zu Fast Fashion, Standortverschiebungen oder Schließungen produzierender Textilindustrie in Deutschland und Europa, damit einhergehend Know How-Verlust für die Fertigung und/oder die Bedienung von Technik (Maschinen, Spinnereien, Färbereien), die bei einer nachhaltigen Herstellung unterstützend wäre, eine schwindende Anzahl an europäischen Zulieferern (z.B. Qualitäts-Garne), eine zu kostenintensive, aufwändige Produktion der Faser, Missernten, gescheiterte Subventionspolitiken oder auch nur die Aussicht auf mehr Profit beim Anbau anderer Gewächse – um nur ein paar Wenige zu nennen.
Stets und überall wird gleichermaßen zitiert, dass der wohl maßgebliche Aspekt, warum Faserleinanbau in Deutschland nicht mehr betrieben wird, seinerzeit (in den sogenannten Wirtschaftswunderjahren) im Preis begründet lag. Die Flachsproduktion in Deutschland (1957 in der BRD, 1979 in der DDR) wurde eingestellt, dem heimischen Flachs keine Bedeutung mehr zugeschrieben, weil eine weitaus günstiger zu erstehenden Faser ihn komplett verdrängt hatte: die Baumwolle.
Manchmal kann es hilfreich sein, einen Blick noch weiter zurückzuwerfen, um zu schauen ob sich daraus etwas für die Zukunft ableiten oder gar zum Guten verändern läßt.
Das nachfolgende, historische Kartenwerk – erstellt vom ‚The London Geographical Institute‘ für die Jahre 1913 und 1922 – ermöglicht eine Übersicht über die Gewichtung von Flachs und Baumwolle noch relativ zu Beginn der Industrialisierung. (Die Maßeinheit 1 cwt = 1 Long Hundredweith (alte Britische Maßeinheit) ≙ 1 Zentner = 50,80 kg)
Was sehen wir, wenn wir diese Karte genauer anschauen? Blaue Punkte (= 2000 cwts) und Quadrate (? cwts) stehen für Flachsanbau, rote Punkte (= 10.000 cwts) und Quadrate (= 1.000.000 cwts) für die Baumwolle.
Schon damals wird der Preis für Baumwolle und deren Wachstumszahlen dargestellt, für Flachs fehlen diese Aussagen gänzlich. Das hat sich bis heute nicht großartig verändert. Aktuelle Handelspreise für die Tonne Flachs (zum Verspinnen) aus öffentlichen, branchenunabhängigen Quellen zu finden, ist mir nicht gelungen – womit sich die Aussage alles lag und liegt am Preis nicht sauber filtern und untermauern läßt.
Allerdings finden sich in dieser Karte Abbildungen für Deutschland zum Im- und Export von Baumwolle. So wurden 1913 davon rd. 9.378 Tausend cwts importiert, also 476.402,4 Tonnen; 1922 waren es 5.608 Tausend cwts, welches 284.886,4 Tonnen Baumwolle entspricht.
Ebenso war Deutschland – dieser Karte zufolge – auf Platz vier der weltweit wichtigsten Länder für Baumwollspinnerei und exportierte bereits im Deutschen Kaiserreich (952 Tausend cwts ≙ 48.361,6 Tonnen) bzw. später in der Weimarer Republik (682 Tausend cwts ≙ 34.645,6 Tonnen) die hierzulande versponnene Baumwolle wieder.
Der größte Teil der importierten Baumwolle verblieb also auch damals schon in diesen Gefilden – der Trend ‚weg vom Flachs und hin zur Baumwolle‘ zeichnete sich demnach viel früher ab.
The London Geographical Institute | Printed in Great Britain by George Philip & Son. Limited. London | Alamy Stock Foto
Weitere Anmerkungen:
Das obige Kartenwerk ist vermutlich eine Auftragsarbeit, denn das ‚The London Geographical Institute‘ war ein Verlagsunternehmen, das sich auf die Erstellung von preisgünstigen Landkarten spezialisiert hatte. Daher basieren darin enthaltene Angaben womöglich nicht auf Daten von offiziellen Stellen bzw. sind stark aus Sicht des Auftraggebers (Britisches Empire) geschildert. Letzteres ist natürlich auch auf politische Verhältnisse und daraus bestehenden Spannungen zwischen einzelnen Staaten zurückzuführen.
Das würde z.B. auch erklären, warum kein Flachsanbau in Deutschland abgebildet ist, der 1913 noch auf 12.000 Hektar betrieben wurde. (Quelle: Bayerische Staatszeitung) Oder warum keine Preisentwicklung für Flachs oder keine generellen Handelswege des weltweit größten Flachsproduzenten (Russisches Zarenreich (1913) respektive später, während der Kriege und Revolutionen bis zur Gründung der Sowjetunion im Jahr 1922) ersichtlich sind.
Als Flachsspinnerei in Deutschland zu dieser Zeit wird nur eine einzige in Bielefeld aufgeführt; es wurde allerdings in dieser Ära noch maßgeblich in den einzelnen Familienhaushalten Flachs zu Garn versponnen.
Heutzutage importiert Deutschland Textilien im Wert von 59.684.741,61 Tausend US Dollar (rd 6.5 Billiarden Euro) jährlich (Quelle für 2021: World Integrated Trade Solution | Weltbank | wits.worldbank.org.
In diesem Textilimport für Bekleidung werden neben Baumwolle, Wolle, Seide und etwas Leinen oder Bekleidungsstücken aus anderen Naturfasern wie Hanf, Ramie oder Brennnessel auch sämtliche synthetische bzw. technische Fasern und alle Mischgewebe in einen Topf geworfen. Was meiner Ansicht nach hier fehlt ist mehr Transparenz, eine detailliertere Aufschlüsselung von verwendeten Grundmaterialien und genutzten Transportwegen.
Wie nachhaltig ist eine Leinenhose aus europäischem Flachs, die irgendwo außerhalb Europas gefärbt, dann in China genäht und letztlich im Container wieder nach Europa verschifft wird? Alles, was Flachs schon im Wachstum so nachhaltig macht, ist dadurch nicht nur verpufft, sondern ad absurdum geführt.
Im Gegensatz zu Flachs wird Baumwolle aktuell auf 28,5 Millionen Hektar (Quelle: Statista | Prognose für 2023/24) weltweit angebaut, wovon allein Indien schon rund 12,6 Millionen stellt. Als weitere Großproduzenten werden die USA (3,25 Mill.), China (2,9 Mill.), Pakistan (2,6 Mill.), Brasilien (1,67 Mill.) und Usbekistan (1,03 Mill.) dort in Hektar aufgeführt.
28,5 Millionen Hektar. Unfassbar viel Land, allein für Baumwolle. Um diese Fläche begreifen und verinnerlichen zu können, versuchen Sie mal sich rd. 40 Millionen Fußballfelder vorzustellen.
Fast Fashion Müllberg | Alamy Stock Foto
Vom Europäischen Parlament erhobenen Schätzungszahlen zufolge verbrauchte die Textil- und Bekleidungsindustrie im Jahr 2015 weltweit 79 Milliarden Kubikmeter Wasser, während sich der Bedarf der gesamten EU-Wirtschaft im Jahr 2017 auf 266 Milliarden Kubikmeter belief.
Für die Herstellung eines einzigen Baumwoll-T-Shirts werden Schätzungen zufolge 2.700 Liter Süßwasser benötigt, genug, um den Trinkwasserbedarf einer Person für 2,5 Jahre zu decken. (Quelle: Europäisches Parlament)
Für diesen Raubbau an der Natur – hervorgerufen durch die Maßlosigkeit unseres Konsums – müssen nachfolgende Generationen sowie die gesamte Fauna und Flora einen extrem teuren Preis bezahlen, der nicht in irgendeiner Währungseinheit zu beziffern ist.
Das Zeitalter der Industrialisierung ist abgeschlossen, das Prinzip des stetig wachsenden Umsatzes längst widerlegt, die Erde keucht unter der Last von Emissionen aus den letzten Löchern und wir folgen wie Lemminge der irrsinnigen Strategie des Massenkonsums ohne wirksame Stoppschilder.
Die Naturfaser Flachs benötigt nicht nur im Wachstum weitaus weniger Wasser – wie im Beitrag ‚Flachs, welche Pflanze ist damit gemeint?‚ erläutert – sondern auch in ihrem weiteren Werdegang hin zu einer langlebigen Textilfaser.
Konkrete Zahlen aus neutralen Quellen konnte ich auch hierzu leider nicht ermitteln – es ist allerdings an zwei (nicht branchenunabhängigen Stellen) die Rede von 2.500 Liter Wasser für die Herstellung von etwa 1.000 g Leinen.
Für eine Jeans, die aus Baumwollstoff besteht, wird der Wasserverbrauch mit 11.000 Liter beziffert. (Quelle: Statista) Also rd. 4-mal mehr Wasserverbrauch als für Leinen.
Leinen läßt sich als nachhaltige Option für Bekleidung mannigfaltig nutzen. Wußten Sie beispielsweise, dass es mittlerweile Leinenstoffe (100% Leinen) gibt, die Denim in seiner Haptik und seinem Aussehen nach, in nichts nachstehen? Dazu mehr in ‚Der Stoff Leinen‚.
Tauröste von Flachs auf dem Feld | Die Tauröste ist eine von zwei möglichen Verfahren, um mit Hilfe der Natur (in diesem Fall Sonne, Regen und Tau) die Flachsfasern zu brechen, d.h. darin enthaltenen Bast später leichter von der Faser trennen zu können | Die Röste ist entscheidend für die Güte des Garns und des daraus gewebten Leinens | Alamy Stock Foto